Lesen lernen

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Leuchtschrift noch dunkel
Leuchtschrift noch dunkel, Aquarell auf Papier, ca 42cm x 29cm, Düren 1995

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Es war dem Schöpfer nie in den Sinn gekommen, die, die er nach seinem Abbild geformt hatte, lesen und schreiben zu lassen. Wir Menschen verdanken die Idee mit Zeichen Gedanken aufzuzeichnen, einigen gefallenen Engeln. Was deren Beweggrund gewesen sein mag, Menschen auf eine solche Idee zu bringen, vielleicht sogar noch ihnen einen ersten Zeichensatz zu übermitteln, kann nur vermutet werden.

Dem gegenüber steht eine „wissenschaftliche“ Spekulation. Die ersten Zeichen sollen Zählzeichen gewesen sein, dem Handel geschuldet. Für einen Korb Getreide wurde eine Kerbe auf ein (Zähl-)Holz geschnitten usw. (Naja, erinnert doch sehr an einen Deckel im rheinischen, vielleicht hatte der spekulierende Wissenschaftler diese Idee in einem kölschen Brauhaus)

Meine Erinnerungen setzen in meinem 4. Lebensjahr ein, jedoch sehr lückenhaft. Die Zeit meines 5. Lebensjahres ist ebenfalls durchsetzt, aber schon vollständiger. Ich erinnere mich, wie ich an der Seite meiner Mutter durch eine Einkaufsstraße ging. Es war später Herbst und die Dämmerung hatte längst eingesetzt. Mit einem mal sprangen überall die Lichter an. Rote dicke Leuchtreklame tauchte den weit entlegenen Fluchtpunkt der Straße in ein nebeliges Rot, teilweise überstrahlt von gelbgleißendem Licht aus Schaufenster. Ganz nah bei mir flitschten die grünen Buchstaben von Deichmann auf. Freilich, das konnte ich noch nicht lesen, aber ich wollte zu gerne wissen, was diese Leuchtreklame mir sagen will.

Dass es überhaupt so etwas gibt, wie Buchstaben, bekam ich nebenbei durch meinen ein Jahr älteren Bruder mit, der seit ein paar Monaten zur Schule ging. Beeindruckt hatte mich das nicht, wie er angestrengt immer dieselben Kringel als Hausaufgabe malen musste. Mit dem allabendlichen Zu-Bett-geh-Vorlesen brachte ich das gar nicht zusammen.

Nie hatte ich auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wie es wohl möglich ist, dass Erwachsene uns aus einem Buch vorlesen. Natürlich war mir klar, dass das im Buch stehen muss, aber dass eine Geschichte aus einzelnen, immer den selben Zeichen besteht, wurde mir erst an diesem herbstlichen Abend in der Einkaufsstraße richtig klar. Ich fragte dann auch was diese Leuchtschrift und diese dort zu bedeuten haben, aber nach der 3.oder war es vielleicht auch schon die 6. Frage, bekam ich keine Antwort mehr.

Das war also das Geheimnis und als mein Bruder wieder seine kringelmalende Hausaufgabe machen musste, setzte ich mich dazu und kringelte mit auf meinem eigenen Blatt. Das ging nicht lange gut, ein paar Tage vielleicht, dann wurde es mir verboten. Ich solle ihn in Ruhe seine Hausaufgaben machen lassen, als ob ich ihn gestört hätte. Heute weiß ich, dass es ihn sogar angespornt hatte. Zum Glück verriet er mir das Geheimnis wie man ein Wort ließt. Die Buchstaben werden als Laute zusammengezogen, so dass die Laute nicht mehr einzeln, sondern im Verbund mit ihrem Nachbarn ausgesprochen werden.

Es war nichts ungewöhnliches zwischen meinem älteren Bruder und mir, dass wir uns gegenseitig etwas zeigten, oder auch zusammen etwas erlernten. Das Schachspiel haben wir nicht etwa von meinem Vater gelernt, der ein starker Spieler in einer Bundesligamannschaft gewesen war, wir mussten uns das selbst bei bringen. Mit 8 Jahren schlug ich bereits meinen Opa, der mal vor dem ersten Weltkrieg Stadtmeister von Zittau geworden war – aber ehrlich gesagt – das, was mein Opa spielte, hatte mit Schach sehr wenig zu tun und war so gar keine Herausforderung. Er spielte auch nie wieder gegen mich , was für mich in Ordnung ging.

Es dauerte nicht lange bis ich einzelne Worte lesen konnte. Wenn jemand abends noch in die Innenstadt musste, war ich sofort zur Stelle. Die Leuchtreklame faszinierte mich über den ganzen Winter, dann ließ es nach. Der Frühling kam, der Sommer strahlte über das Land und dann bekam ich auch meine Zuckertüte und die wunderhübscheste Lehrerin, die ich mir überhaupt vorstellen konnte, Fräulein Gräfe. Ich war zum ersten mal verliebt und versuchte mit meinen bereits vorhandenen Lesekünsten ihre Aufmerksamkeit zu erheischen. Das ging leider nach hinten los. Beim Elterngespräch tadelte sie meine Mutter, dass es kontraproduktiv für das Lernklima der Klasse sei, wenn ein Kind immer vorlernen würde. Meine Mutter wusste gar nicht wie ihr geschah und von nun an musste ich fast jede Hausaufgabe zweimal, manchmal sogar dreimal machen, aus fadenscheinigsten Gründen. Auch Fräulein Gräfe schien sich gegen mich verschworen zu haben, denn mein Geburtstag wurde in der Klasse gar nicht gefeiert, nicht im ersten Schuljahr, nicht im zweiten, erstmalig im dritten Schuljahr – aus pädagogischen Gründen nehme ich an.

1968 bekamen wir unseren ersten Türken in die Klasse. Er hieß Metin und machte Sachen, die sich zuvor niemand getraut hatte: Mitten im Unterricht aufstehen, durch die Klasse laufen, oder plötzlich den Ranzen anziehen und mitteilen, er gehe jetzt. In den Pausen suchte er immer Streit zu anderen Kindern. Es gab Raufereien. So kam es, dass eine Gruppe Mädchen mich auf dem Pausenhof aufsuchte, eine Gabi, eine Sabine Plaschke und die von vielen Jungs umworbene Petra Jablonski. Sie baten mich einzugreifen. Der Metin wolle ihren Freund verprügeln. So ging ich mit und als Metin mich sah, ließ er ab von dem Angsthasen und wendete sich mir zu. Die Mädchen nahmen den Angsthasen in ihre Mitte und verschwanden. Nun sammelten sich viele und bildeten einen Kreis um uns herum. Mir war vielleicht mulmig, nicht etwa wegen dem zwar stabil gebauten, aber einen halben Kopf kleineren Metin, sondern wegen der Aussicht auf eine Tracht Prügel mit Stubenarrest und Fernsehverbot, wenn meine Mutter davon erfahren sollte – und das würde sie wegen meines kleinen Bruders, der jetzt hier die erste Klasse besuchte, diese Petze.

Wir umringten uns, boxten ein bisschen rum, scheinbar wollte er nicht auf`s ganze gehen und ich ja sowieso nicht, dann kam der Gong. Auf dem Weg in die Klasse sprach Metin mich an und es hörte sich freundschaftlich an. Ich aber im Angesicht dessen, was unweigerlich geschehen würde, konnte das nicht erwidern. Das ist schade, denn wir hätten Freunde werden können – ich fand ihn cool und er mich wohl auch.

Das war Metins letzter Auftritt in der Pause, er wurde von der Schule genommen. Zu meiner Überraschung wurde ca 3 Wochen danach mein Geburtstag zum ersten mal mit der Klasse gefeiert. Das obligatorische Hausaufgabenfrei zum Geburtstag galt meiner Mutter allerdings nichts und ich musste sie doch machen.
Direkt im Anschluss dieser „Schlägerei“ erging es mir erwartungsgemäß schlecht. Schon bei der ersten Gelegenheit petzte die Petze und ich bekam meine Tracht Prügel, Stubenarrest, Strafdienste und natürlich auch Fernsehverbot und eine Stunde früher ins Bett – bis zu meinem Geburtstag.

Da fing ich an zu lesen Old Shatterhand und Winnetou und von da ab machten mir der Stubenarrest nicht mehr wirklich viel aus. Ich las alles und bald in einer Geschwindigkeit, dass ich mir anfangs der Woche bei einem neuen Buch schon Sorgen machte, woher ich das nächste Buch her bekommen werde.





 

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