Der Autist

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Wie bringt man einen Autisten dazu sich eine Praktikumsstelle zu besorgen?

Acryllackarbeit von einem Foto
Buchladen, Meckenheim 2018, Acryllack auf rahmenaufgezogenen Rohkarton, Epoxydharz versiegelt, 70 cm x 50 cm

Info






Nach vielen Jahren in der sozialpädagogischen Einzelfallhilfe für Minderjährige und junge Erwachsene tätig, kam mir die Idee einen gut bezahlten Schulbegleitungsauftrag anzunehmen. Das hatte verschiedene Gründe: Zum einen beträgt die von den Trägern der Jugendhilfe und den Jugendämtern monatlich gebuchten Fachstunden pro Familienhilfefall selten mehr als 16 Stunden, so dass ich mindestens in 4, manchmal aber auch in bis zu 6 Systemen involviert war, daneben aber noch meine Schulprojekte liefen und zeitweise auch noch andere Anfragen kamen, denen ich schlecht ausweichen konnte. Als freier Sozialarbeiter ist man nämlich nicht so frei. Schlägt man Anfragen aus, muss man damit rechnen, dass sich dieser Träger, das Jugendamt, oder die privaten Auftraggeber nie wieder melden.

Zum anderen wurden die Fälle immer schwieriger, das Risiko stieg, ebenso der Stress. Viel zu spät hatte ich damit begonnen alle Aufträge in Richtung Köln und Bergisches Land herunterzufahren und mich nur noch auf der Nord-Süd-Achse zu bewegen, denn die ewigen, tagtäglichen Staus zermürbten, brachten jede Planung durcheinander, trieben die Nebenkosten hoch und schmälerten gleichzeitig die Einkünfte. Es war eine große Entlastung nur noch Fälle anzunehmen und Projekte anzubieten zwischen Aachen und Koblenz, sozusagen parallel zum Rhein, aber nicht mehr auf den Rhein zu. Mein ganzes Leben fing an sich zu entschleunigen und auch die Knöllchenkosten nahmen rapide ab. Seitdem komme ich nie zu früh, oder zu spät, sondern immer ganz genau richtig – und ich finde auch immer einen Parkplatz.

Als Schulbegleiter kann man die Vormittagsstunden verkaufen, die in der Familienhilfe eher selten gebucht werden. Außerdem reizte es mich mal keinen Intensivtäter, oder zu kurz gekommenen Jugendlichen auf die Spur zu bringen, sondern einen kleinen, 12 Jahre alten autistischen Jungen, der regelmäßig in die Schule ging, sogar Bücher in seiner Freizeit las, sich in Geschichte beachtlich gut auskannte und eben nur ein bisschen Ärger hatte mit einer Gruppe von Mitschülern und einer einzigen Lehrerin – ein einfacher Fall. Was sollte ich mir das Leben schwer machen, dachte ich mir und holte mir ein einziges Projekt noch dazu und keinen weiteren Jugendlichen. So hatte ich auf jeden Fall Freiraum für private Aufträge, die bis zu 4 mal höher vergütet werden und oft ziemlich einfach zu lösen sind. Und dazwischen? – einfach mal Zeit für mich und meinen Hund. Ein wunderbares Leben kommt auf mich zu, dachte ich.

Es war dann auch eine großartige Zeit in der ich viel gelernt habe und die anfangs vermutete Verstimmtheit zwischen Autist und Lehrer und Autist und Schüler, die sich dann aber als fast unüberwindbare Konfliktserie entpuppte, konnte von mir gelöst werden. Von mir? eine missverständliche Formulierung, denn der Sozialarbeiter löst nie selbst etwas auf. Er verhält sich so, dass alle Konfliktparteien zu einer Lösung beitragen können, wollen und das dann auch machen. Kollegen, die sich hier als eine Art „Schiedsrichter“ verstehen wollen, weichen der eigentlichen Arbeit aus. Von Lehrern wird das gerne gesehen, obrigkeitsgläubige Eltern ordnen sich dem gerne unter, alle Erwachsenen können sozusagen mit dieser Art Rollenverständnis etwas positives verbinden, denn es bedeutet letztlich immer eine besondere Anpassungseinforderung vom schwächsten in dieser Runde, dem autistischen Kind. Alle anderen Beteiligten können mehr, oder weniger so weiter machen wie bisher. Wie angenehm für die Erwachsenen und auch für die Mitschüler.

Eine solche Berufsauffassung ist schlichtweg Sozialbetrug. Er ist allerdings nicht so leicht zu erkennen, denn Kinder werden ja von ganz alleine volljährig. Alle Unprofessionalitäten, die es bis dahin auszuhalten hatte, entschwinden danach dem fachlichen Blick , so dass derartige Sozialarbeiter auch die nächste Runde wieder mehr für sich, für ihre eigene Akzeptanz, als für das anvertraute Kind tuen werden.

Das Wohl des Kindes ist der grundsätzliche Auftrag, das Kind steht immer im Mittelpunkt des sozialarbeiterischen Wirkens und deshalb ist die fachliche Haltung beinahe schon penetrant parteiisch für das Kind – aber bitte dabei fair bleiben und die missbilligende Wucht aufgebrachter Erwachsener geschmeidig aushalten lernen. Supervision hilft dabei. Umgekehrt ist das nicht so und soll es auch nicht sein. Der Sozialarbeiter ist möglichst nicht das Zentrum der Aufmerksamkeit des Kindes und sollte professionell damit umgehen können, dass das liebe Kind ihm schon mal unerwartet in den Rücken fällt.

Also, wunderbares Leben ist, glaube ich, wohl eher etwas anderes. Es war ein gutes Leben, eine interessante Zeit, die sich mit der Suche nach einem Praktikumsplatz langsam der mittleren Reife und damit ihrem Ende näherte.

Die Mutter meinte es nur gut, als sie mir per WhatsApp mitteilte, dass sie 2 Praktikumsanfragen in Verwaltungen für ihren Sohn gemacht hatte und nun davon ausgeht, dass eine wohl klappen werde. Ich bedankte mich für ihren Einsatz und dass ihr Engagement ein beruhigendes Auffangnetz darstellen würde, falls die eigenen Bemühungen des Kindes keinen Erfolg haben sollten. Welche eigenen Bemühungen?, kam zurück, sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass der Junge sich selbstständig auf den Weg macht. Es vielen dann die üblichen Vokabeln, Überreizung der Frusttoleranz bis hin zur Gefährdung des Schulabschlusses. Mir blieb am Ende nichts weiter übrig deutlich zu machen, dass ich nicht bereit sein werde eine pädagogische Begleitung fortzuführen mit dem Ziel selbstständiges Handeln zu unterbinden und dem Kind sozusagen einen Reifegrad vorzutäuschen, den es nicht haben kann, wenn es sich nicht mal selbst um eine Praktikumsstelle bemüht. Darüberhinaus ist damit sicher kein Schulabschluss gefährdet, denn im schlimmsten Fall wird er das Jahr einfach wiederholen müssen, aber dann in einer reiferen Verfassung, weil älter und erfahrener. Nicht umsonst, gab ich den Eltern zu bedenken, spricht man von mittlerer Reife, die sollte er schon haben und meiner Meinung nach kann er sie durchaus haben, aber umsonst ist nichts.

Ich gehe sehr, sehr ungern in Konfrontation mit Eltern autistischer Kinder. Niemand, der das nicht selbst mal miterlebt hat, kann sich vorstellen was solchen Eltern an Leistung abverlangt wird bis so ein Kind endlich groß ist. Aber hier musste es sein. Bei Mädchen mag sich das anders verhalten, aber bei Jungs ist es im Alter von 14/15 ein No-Go noch irgendetwas wie selbstverständlich von dem „kleinen“ Mann fernzuhalten. Eine Komplettverpeilung ist fast immer die Folge. Was eine Komplettverpeilung ist? Mir ist das jetzt zu viel es hier zu beschreiben, erfahren Sie es doch selber, wenn Sie mir nicht glauben. Lassen Sie sich von ihrem Sprössling zum Dienstboten machen, aber sorgen Sie dann bitte auch dafür, dass er das Abitur schafft und studieren wird, in einer Lehre nämlich geht eine derartige Verpeilung schnurgerade in unangenehmste Konflikte bis hin zum Lehrstellenabbruch – jedenfalls ist die Gefahr dafür erheblich größer, als wenn das Jungchen im Elternhaus noch mitbekommen konnte, wo sich sein sozialer Platz in der freien Marktwirtschaft derzeit befindet.

Viele intelligente und gut erzogene Jungs haben damit am Ende ihres Kind-seins erhebliche Probleme, bei den meisten legt sich das aber schnell, manche hingegen wollen erst das „volle Programm“ fühlen, wenige davon glauben es danach immer noch nicht so richtig.

„Du wohlstandsverwahrloster Fuzzi, du bist kein Prinz, das war oft nur, weil deine Mutter und andere Erwachsene deine Quängelei, deine schlechte Laune, vielleicht sogar deine nervige Anwesenheit nicht mehr aushalten konnten, deshalb hast du das Eis bekommen, stundenlang Fernsehen, die neue Spielkonsole, alles um dich zufrieden und vor allem ruhig zu machen“.

Wie Sie selbst als Berufsfremder sehen können, liegt die anstrengende Arbeit in der fordernden Weiterentwicklung des jungen Menschens und natürlich bekommt man dafür anfangs wildes Kontra. Machen Sie das aber nicht, wird auch nichts anstrengend und das Kind wird ja von alleine 18. Die auch dann eintretende Veränderung beruht auf dem systemischen Grundsatz ‚Änderst du ein Teil, änderst du das ganze System‘ und das System wurde ja bereits durch die regelmäßige Anwesenheit der pädagogischen Fachkraft verändert. Allerdings ist dabei noch nichts über Nachhaltigkeit ausgesagt und ein Familiensystem ändert sich nach diesem Gesetz in gleicher Intensität, wenn es sich einen Hund anschafft. Es muss also nicht unbedingt eine teure Fachkraft bezahlt werden, wenn das Ziel Friede, Freude, Eierkuchen ist. Viele Eltern wollen genau das. Das für sie unangenehme soll aus ihrem Blick, es soll ein Hund, oder eine Fachkraft übernehmen.

Mein Ansatz, bzw. das einzige, was ich als Sozialarbeiter wirklich tue, ist eine Raumerweiterung für das Kind im weitesten Sinne. Deshalb bin ich letztlich immer erfolgreich, sofern das ganze von allen Beteiligten zugelassen wird. Das ist leider gar nicht so selten nicht der Fall. Aber nun, in dieser Schulbegleitung hatte ich es doch so einfach wie nie zuvor. Die Forderung kam ja von der Schule, da brauchte ich gar nichts zu machen.

Die Idee des Praktikums liegt in der Verselbstständigung des Kindes und in so fern liegt die Argumentation für eine selbstständige Suche nach einer Stelle auf der Hand, zumal wenn eine pädagogische Fachkraft unterstützen kann. Praktikas gibt es bis zur 10. Klasse nur 2 mal, einmal kurz und einmal über mehrere Wochen. Das sind dargereichte Chancen, vom Steuerzahler bezahlt, die unbedingt genutzt werden sollten und nicht einfach und irgendwie abgehakt werden dürfen. Wenn man immer allen Erziehungsunterstützungen ausweicht, ja, dann kann das wirklich aufreibend werden einen Prinzen vom Wickeltisch in die Wirklichkeit zu überführen.

So bekam ich die Mutter, aber längst noch nicht den kleinen Autisten. Tatsächlich ist es bei allen autistischen Jungs so gewesen, dass die Androhung, den Fall zu schmeißen, keine großartigen Reaktionen hervorriefen, es sei denn, sie mussten damit rechnen, dass das Leben zu Hause mit einemal stressig werden könnte. In diesem Fall war es nicht anders und erst ein Konflikt Mutter-Sohn ließ den Kleinen schließlich dazu bewegen, mir einen Nachmittag zu schenken, damit ich das mit dem Praktikum auf die Reihe bekomme. Vielleicht verstehen Sie jetzt etwas besser, wie Autisten ticken. Seinen typisch autistischen Wutanfall hielt er auffallend gut zurück, als ich ihm klar machte, dass ich ihm nicht nur einen Nachmittag schenken werde, sondern genau soviele, wie er brauchen wird, um seine Stelle zu finden.

Hier nochmal etwas aus dem Nähkästchen: Selbstverständlich habe ich im Vorfeld geschaut was wo möglich sein könnte und kam dabei auf den kleinen Buchladen, der regelmäßig Praktikanten nimmt. Außerdem wußte ich, dass sie gerade keinen hatten. Die Frage war also nur: Wie bekommt man einen lesebegeisterten Autisten in einen Buchladen? Hört sich erstmal nicht so schwer an. An der Stelle sollte man dann aber aufhören sich weiter Gedanken zu machen, oder noch schlimmer, etwas zu planen. Garantiert wird das nicht funktionieren. Jetzt könnte ich Ihnen etwas über Feinstofflichkeit und Vibrations erzählen, aber ich will es kurz machen. Ihre Authentzietät erfährt durch eine solche Planung einen für Sie selbst nicht wahrnehmbaren Blödsch, aber umso deutlicher werden die Menschen ihn wahrnehmen können, die Sie in Ihre Planung mit einbezogen haben. Wahrscheinlich merken sie es nur unterbewusst, aber das reicht schon aus. Verheerend bei Autisten. Deshalb handle ich in der gegebenen Situation einfach in Richtung des mir vorschwebenden Ziels, immer bereit, dieses auch sogleich aufzugeben, wenn sich die Voraussetzungen immer weniger erfüllen. Scheitern aushalten lernen!, ist das Erfolgsrezept.

Wir trafen uns auf dem Parkplatz vor der Realschule und gingen mit Mala, meine Australien Shepherd, in Richtung Stadt. „Ich bin nicht bereit mehr Zeit zu opfern als diesen Nachmittag“. „Das freut mich, dass du mit der Einstellung startest heute auf jeden Fall einen Praktikumsplatz klar zu machen.“ „Das mache ich nur Mala zu Liebe, die tut mir nur Leid sie den ganzen Tag um sich haben zu müssen, warum gehen sie nicht einfach sterben? Ich werde mich um Mala schon kümmern, keine Sorge.“
„Verdrehst du da nicht was? Sie passt wohl eher auf dich auf, du brauchst dich nur um dich selbst zu kümmern. Mala denkt für dich gleich mit“
„Dafür hat sie mir 2 Köpfe zu wenig.“
„Du willst einen Hund mit 3 Köpfen? – abgefahren.“
„Fluffy“
„Was? Fluffy?“
„Kennen sie Fluffy nicht?“
„Was soll das sein, ein Jogurthbecher?“
„Sie sind einfach schon zu alt. Fluffy ist der Hund von Harry Potter, Fluffy, der Hund mit den 3 Köpfen. Kennen sie die Bücher von ‚Jiekeirouling‘ nicht?“

(Na also, da wären wir ja schon auf der Zielgraden. Der Bücherladen ist 250m vor uns.)

„Gelesen habe ich sie nicht, übrigends sind die Bücher nicht von einem Jiekei.“ „Was??“, er blieb stehen, „natürlich, die Autorin heißt Jiekei.“ Ein Autist kurz vor dem Ausflippen.
„Jetzt reg‘ dich mal nicht so auf, jeder kann sich mal irren. Der Autor heißt doch so ähnlich wie John Kathreen.“
„Sind sie verrückt geworden, ich weiß doch ganz genau, dass alle Bücher von Harry Potter von Jiekei geschrieben wurden.“
„John Kathreen.“
„Jiekei, eine Frau“, völlig ausser sich.
„Komm‘ mal wieder runter…“
„Wir können ja wetten – um 10 €.“
„Zeig‘ sie mir!“
„Brauche ich nicht, weil ich sowieso gewinnen werde.“
„Okay, ein Eis für 2 € wenn du Recht hast, da vorne ist ein Bücherladen.“

Harry Potter wurde von Joanne Kathreen Rowling erfunden und geschrieben.





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