Die Wirklichkeit

Datum

In Frankreich, nach langer Fahrt, in einem Café.Was anderes als ein Bier trinken fällt mir bei meinem ersten Ausflug nicht ein. Eigentlich wollte ich sportlich sein, mit meinem Hund schwimmen, danach laufen, danach die Dusche und dann ein schöner Spaziergang, bei einem alkoholfreien Getränk in einem Café nette Leute kennenlernen und dann wieder fröhlich zurück um morgen ganz früh aufzustehen.

Seitdem mein Bruder nicht mehr trinkt habe ich das Gefühl, dass ich mehr trinke, so als ob immer einer von uns mehr trinken muss.
Jetzt habe ich mir sogar noch eine Packung Zigaretten gekauft, obwohl ich seit fast 2 Monaten nicht mehr rauche. Mein Sohn hat endlich eine Ausbildung abgeschlossen. Er wird dieses Jahr 26. Die gute Nachricht kam am Freitag, ein Grund zum feiern, aber eingeladen hat er mich nicht. Irgendwie komisch und doch schon normal mittlerweile. Jedenfalls nutzte ich die aufkommende Unbeschwertheit spontan loszufahren, 1000 km, jetzt sitze ich hier in einem Cafe am Atlantik und es holt mich doch noch ein.

Natürlich wollte ich meinen Sohn in den Arm nehmen, happy end. Am Telefon sagte er mir aber lapidar, er komme dann vielleicht am Sonntag mal rum, er wolle heute mit seinen Freunden feiern.
Osterspaziergang mit Familie
Familie mit Hund, analoges Kleinbild 35mm, 2007
Ich war nicht darauf vorbereitet, dass es mich treffen würde. Aber das tat es. Seine SMS-Info über den geglückten Ausgang der Prüfung hatte in mir ein Winner-Gefühl ausgelöst. Diesmal kam ich rechtzeitig und konnte dafür sorgen, dass es diesmal nicht gegen die Wand fährt, denn er hatte mich endlich mal zeitnah informiert und auf dem Laufenden gehalten. So konnte ich genau im richtigen Moment eingreifen. Nach dem Telefonat hatte sich dieses goldene Winnergefühl ziemlich rasch sang und klanglos ausgefadet und so habe ich, noch bevor mich ein trauriger Karma-Schwaden erwischen konnte, das Zelt und meinen Hund ins Auto geworfen und war dann erstmal 16 Stunden gut gelaunt und beschäftigt gewesen.

Es ist schön gegen die untergehende Sonne zu fahren und es ist schön im Morgengrauen den Atlantik zu sehen und zu riechen. Campingplatz, Zeltaufbau, etwas Essen, schlafen, wunderbar schlafen, noch mehr schlafen, dann war es schon Nachmittag und Zeit für einen Spaziergang. Und auf einmal fängt mich doch noch ein tragisches Gefühl ein.

Ich erinnerte mich an meine jugendliche Schachspielzeit und die häufigen Enttäuschungen darüber, dass mein Einsatz nicht geschätzt wurde. Gewonnen, weil der Gegner einfach schlecht gespielt hat, war all zu oft die Zusammenfassung der Kommentare meines Vaters und seiner Schachfreunde. Ja, beim Schach weit unterhalb des Großmeistersniveaus ist es immer so, dass Fehler gemacht werden, sonst wäre man ja Großmeister. Aber auch Großmeister können nur gewinnen, wenn sie den Fehler des Gegners erkennen und ihn auszunutzen verstehen. Lokalmatadore haben jedoch einen unsichtbaren, ungeschriebenen Bewertungsmaßstab für Fehler. Es gibt die besonderen schlauen Fehler und die „da-haste-aber-Glück-gehabt“ Fehler. Auch das aufdringliche aufzeigen, dass man doch viel schneller hätte Matt setzen können, mag interessant und lehrreich sein, aber doch nicht nach dem Sieg und schon gar nicht von selbsternannten Kleingroßmeistern. Dabei wird das Spiel übrigens völlig verkannt, denn es geht um das geistige Ringen zweier Menschen. Es geht darum die Bruchstelle der Biokurve des Gegners zu finden, ihn zu verleiten einen Fehler zu machen. Ob er dabei die Stellung falsch eingeschätzt hat, oder fahrig eine Figur stehen läßt, ist gleichgültig im Gefecht. Man versucht den Gegner zu überlasten und behält die eigene Biokurve im Auge. Deshalb ist es auch kein Kriterium für Qualität, wenn der Fehler nicht bestmöglich ausgenutzt wird, jedenfalls nicht von einem Nicht-Profi. Es richtet sich immer nach den eigenen Ressourcen. Was nutzt es die eigene Biokurve zu vernachlässigen und in einem Tief zu versuchen den schönsten, bestmöglichen Zug zu finden, wenn man den Vorteil schon so deutlich heraus gespielt hat, dass es die einfachen Züge auch machen. So etwas geht ganz schnell und fast immer schief und auf einmal verliert man die gewonnene Partie. In 5 Stunden hat jeder Amateur irgendwann sein Tief und genau dann schlägt man zu, das ist Schach.
Mein Vater hatte vor unserer Geburt in der höchsten Liga gespielt und da war es jetzt nun wirklich keine Glanzleistung gegen Lokalmatadore aus der Provinz zu gewinnen. Dennoch hatte es dem Architekten immer allergrößte Freude bereitet, seinen Gegnern, meist Doktoren, Managern, oder Geschäftsführern, ihre geistigen Grenzen aufzuzeigen. Natürlich gewann er und wenn er sich danach meine Partie ansah, hatte ich eigentlich alles falsch gemacht, eigentlich schon vom ersten Zug an und eigentlich nur glücklich gewonnen. Hauptsache der Punkt war da und ich musste dann warten bis alle zu Ende gespielt hatten, sich genügend gegenseitig auf die Schultern geklopft hatten bevor wir im Mannschaftsbus endlich zurück fuhren. Ich spielte nur als Ersatzmann und nur meinem Vater zu liebe.

Wie damals fühlte ich mich jetzt genauso abseits, denn tatsächlich feierte mein Söhnchen erst im engen Kreis mit meiner Exfrau und ihrem neuen, obwohl die ihm doch den ganzen Scheiß, diese Ausbildungsodyssee, erst eingebrockt hatten. Und so wird es auch sein, wenn er heiratet und auch wenn mein Enkel geboren wird. Und die Frage, die sich mir stellt, ist: willst du das? Willst du das so mitmachen? Ich selbst finde mich da nirgends wieder, mir wird die Rolle eines Funktionsstatisten aufdoktriniert, der abgewatscht wird, wenn es nicht klappt und in seiner Nische für spätere Verwendung verschwinden soll, wenn’s denn geklappt hat. Meine Pflicht als Vater ist doch endlich erledigt und ich nehme mir heraus eine derart unattraktive Rolle still und leise abzulehnen. Und ich wünsche ihm von Herzen alles Gute und eine glückliche Zukunft.
Blattzeichnung coloriert
OnTop, 2011, 40 × 30 cm, Nitrofarben auf Karton
Was mache ich jetzt nur mit meinem Restleben? Beruhigend jedenfalls, dass ein Restleben auch nur noch ein Restrisiko beinhalten kann, irgendwie vernachlässigbar.

Weiter unten läuft Mala schwanzwedelnd zwischen den gekippten Booten umher, ein schöner Sonnenuntergang, es ist Ebbe an der Atlantikküste. Ich mache mir eine Zigarette an, bestelle bei dem aufmerksamen Bretonen noch ein Bier ohne ihn direkt dabei anzuschauen. Mit Tränen in den Augen proste ich mir für die lang ersehnte Flutung meines eigenen Selbstwertgefühls in Gedanken selber zu.





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