Tischlein

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Table Dance Light

Ist die Zeit der runden Tische vorbei?

Ja, ich weiß, es war oft nervend. Keine Runde, in der es nicht doch jemandem zumindest zeitweise gelang das Gesprächsthema wegzublenden, oder es so groß zu machen, dass es nirgends mehr hineinpassen wollte, oder umgekehrt, es so zu reduzieren bis es kaum noch zu sehen war. Ich spreche hier von den Aufbruchjahren, den 70igern und 80igern. Runde Tische nervten auch noch in den 90igern. Es lag schlicht und einfach an der Qualität. „Gut, dass wir mal drüber gesprochen haben“, war der Tenor der 90iger, der der 80iger war eher „Willst du mir ein Gespräch aufzwingen?“ Die 90iger runden Tischgespräche erlangten mit den immer häufiger aufretenden „Supervisoren“, meist Psychologen mit einer Zusatzqualle, einen Höhepunkt des Langatmigen. Wir lernten alle Stille auszuhalten.

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Erst mit dem Aufkommen der Supervisorenausbildung in Verbindung mit gewaltfreier Kommunikation entstand langsam über die Jahrtausendwende hinweg eine Sicherheit und ein Gefühl der Geborgenheit am runden Tisch, die es ermöglichte „heisse Eisen“ anzupacken, ohne Angst davor haben zu müssen, dass einem das hernach um die Ohren geschmettert wird. In meiner Arbeit als Sozialarbeiter kann ich ein Lied davon singen. Endlich entstanden Qualitätsstandards und um 2005, um mal eine Jahreszahl zu benennen, gab es keine Supervisoren mehr, die nicht wenigstens diese Grundstandards konnten. Eigentlich ist das zu destruktiv formuliert. Ab 2005 gab es keine „schlechten“ Supervisoren mehr – hier in NRW und RLP zumindest, wo ich tätig bin. Die USA, darf man ruhig verallgemeinern, hatten diese Qualität bereits in den 80igern.

Ca 2000 war es bei Pädagogen und Psychologen üblich geworden einmal im Monat Supervision zu haben und mit der Zeit färbte die dort eingehaltene Gesprächsqualität auch in das Teamgespräch ab, die Jugendämter zogen nach und qualifizierten ihre Hilfeplangespräche, nur die Lehrer, bis heute 2020, kennen immer noch keine Supervision und genau so hört sich das dann auch an – das läßt sich ungeniert verallgemeinern.

Fazit: Es gibt noch Baustellen, aber das Gespräch in der Runde hat eine gehörige Entwicklung zum Guten gemacht und besitzt in den einschlägigen Berufsgruppen das Ettikett „must have“ Es hat eine standardisierte Qualität vorzuweisen, die in die alltäglichen Kommunikationen mehr und mehr einfließt und besonders die Arbeit mit Menschen qualitativ erhöhen kann, eine Erfolgsgeschichte also.

Leider, wie eigentlich immer, gibt es eine ausgesprochen dunkle Kehrseite zu dieser Entwicklung:

Das Gespräch am runden Tisch wurde zum Arbeitswerkzeug, dass nach der Arbeit genauso heruntergefahren wurde wie der Computer. In der Freizeit gab es das Bedürfnis nach „runden Tischen“ immer seltener. Vergleichen Sie, liebe Leserin und lieber Leser das mal mit der, man kann schon sagen, Bedürftigkeit nach runden Tischen in den 70igern, sofern Sie über das entsprechende Alter verfügen.

Natürlich meine ich nicht die üblichen Gesprächsrunden mit den Freunden und Bekannten, sondern ich meine tatsächlich verabredete Gemeinsamkeit mit dem Ziel sich über bestimmte Entwicklungen auszutauschen und die eigenen Erkenntnisse zu erweitern um ein zukünftiges Handeln abzustimmen. Es ist nicht so, dass nach dieser Definition das gar nicht mehr passiert. Es passiert in Vereinen, in den politischen Ortsverbänden usw, nur ist das eben nicht die spontane Alltagszusammenkunft, die sich gewollt bewußt über den Verlauf etwaiger Ereignisse austauschen möchte, ähnlich dem altforderen Familienrat, es ist eher eine arbeitsähnliche Situation, nur eben befreit vom Leistungsdruck, offener für Spaß und meist mit einem übergeordneten Ziel, dem man sich verpflichtet hat. Das ist wunderbar und unsere Gesellschaft, die deutsche Gesellschaft, lebt von seinen Vereinstätigkeiten.

Der Einfluss der Medien, vor allem Angebote sozialer Netzwerkmedien, haben diesen intimen Debattenraum, fernab aller vereinsähnlichen Zusammenkünfte, zunehmend ersetzt und um hier auch mal eine Jahreszahl zu nennen, seit 2005 eigentlich geschlossen. Das ist der Grund dafür, dass es vielen, vor allem jungen Menschen, gar nicht auffällt, dass hier nur noch Narrative gelten, die in den öffentlichen Medien propagiert werden. Entspricht in einer Meinungsverschiedenheit einer der Diskutanten dem öffentlich dargestellten Narrativ, kann er das Gefühl hegen Tausende, wenn nicht Millionen hinter sich zu haben, selbst wenn er in seinem Umfeld nicht einen einzigen Freund benennen könnte.

Das Narrativ erzeugt primär keine Auseinanderetzung mit den Thema, es dient vielmehr sozialen Komponenten. Mit anderen Worten, das Thema ist schon ausdiskutiert, man kann sich da einer Geschmacksrichtung anschließen, ansonsten ist die Auseinandersetzung in der Freizeit eher mühselig und zu vermeiden, da man das ja schon auf der Arbeit hat, wo man allerdings dafür wenigstens bezahlt wird.

Das ist der große Trugschluss der derzeitigen jungen Generationen, deshalb merken sie gar nicht, was ihnen genommen wird. Deshalb gibt es keinen Aufschrei. Nur ich schreie mit meinen Projektionen und zeige dieses Tischlein, an dem wohl drei gut Platz finden könnten. Man sollte wieder klein anfangen ernste Gespräche zu führen. Aber vielleicht passiert das ja jetzt im Augenblick, denke ich gerade und sehe wie ein junges Studentenpärchen mit Maske durch den Park joggt, – also wohl eher nicht.

Wandel der Normalität
Die alte Normalität ist zertrümmert, die gegenwärtige unerträglich und die vor uns liegende in unserer Hand. Gestalten wir sie!
von Nicolas Riedl





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